Adventfenster 24

DER KLEINE MARIENKÄFER FEIERT WEIHNACHTEN

Endlich war es soweit! Der kleine Marienkäfer hatte sich schon lange auf den 24. Dezember gefreut. Er würde diesmal den Tag auf eine ganz spezielle Art und Weise begehen, um ihm eine besondere Note zu verleihen. Seit seinem Eintreffen auf der Wunderwiese hatte sich sein Leben schlagartig geändert, vieles war geschehen. Und wieder einmal saß der kleine Marienkäfer lächelnd, ganz in sich und seine Gedanken versunken, am Fenster und schaute mit funkelnden Augen hinaus in die weite, weiße Welt.

Erst vor zwei Tagen hatte es begonnen zu schneien und nun zeigte sich die gesamte Wunderwiese in hellem, strahlendem Weiß. Millionen großer, dicker Schneeflocken hatten sich in den vergangenen Stunden wie Zuckerwatte auf die Landschaft gesetzt. Alles wirkte so herrlich ruhig, sämtlicher Lärm wurde gleichsam von der weißen Pracht verschluckt.

Der kleine Marienkäfer liebte diese feierliche friedvolle Stimmung, die das Weihnachtsfest noch einmal mehr zu dem machte, was es eigentlich sein sollte – EIN FEST DES LAUTEN FRIEDENS UND DER STILLEN FREUDE…

„Lauter Friede und stille Freude…“
„Hmmmm…“
Der kleine Marienkäfer war plötzlich überrascht.

Warum hatte er in seinen Gedanken dem Frieden „laut“ und der Freude „still“ zugeordnet? Normalerweise stellte man sich den Frieden doch immer leise und die Freude laut vor…oder nicht? Warum spielten ihm seine Gedanken einen derartigen Streich?

Der Gesichtsausdruck des kleinen Marienkäfers verriet, dass er im Moment etwas nachdenklich und ratlos war. Auf seiner Stirn bildete sich sofort diese steile, kleine Falte, die immer in solchen gedanken-schweren Augenblicken erschien.

„Warum?“
„Ja, warum…?“

Da die Lösung dieser Gedanken-Verwirrung sicher eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen würde, ging der kleine Marienkäfer in die Küche und machte sich eine große Tasse Tee. Danach kehrte er wieder an seinen ursprünglichen Platz am Fenster zurück. Er hoffte, der kurze Standortwechsel hatte ihn dahingehend unterstützt, im wahrsten Sinn des Wortes einen neuen Blickwinkel zu finden. Das hatte sich ja schon so oft in seinem Leben als äußerst hilfreich erwiesen, um anstehende Dinge zu lösen.

Plötzlich betrachtete man alles von einer anderen Warte aus, sah neue Aspekte, andere Ansätze. Manchmal lag die Lösung näher als angenommen und war weit weniger kompliziert als gedacht.

Ja, und diese herrlich duftende, dampfende Tasse Tee namens „Winterzauber“ würde wohl auch ein wenig dazu  beitragen, den dichten Gedankennebel aufzulösen.

Der kleine Marienkäfer steckte seine kleine Stupsnase für kurze Zeit nahe an die Teetasse, um sich vom leichten Zimtduft verzaubern zu lassen, die wohlige Wärme des dampfenden Getränkes in seinem Gesicht spüren zu können. Für ein paar geborgene Sekunden war alles gut, wie es war…

Er atmete ein paar Mal ganz tief ein und aus, trank einen Schluck Tee und versank dann wieder in der Unendlichkeit des zarten Schneegestöbers, das vor kurzem wieder begonnen hatte.

Nach einer kleinen Ewigkeit des Nachdenkens lockerten sich die strengen Gesichtszüge des kleinen Marienkäfers und seine Mundwinkel zogen sich mehr und mehr nach oben und brachten ein wunderschönes, lustig verspieltes Lächeln hervor.

Von einem Moment auf den anderen war ihm vieles klar geworden. Er hatte sich überlegt, was Friede bedeutet. Friede ist das Gegenteil von Krieg. Im Krieg kämpft jemand gegen einen anderen, versucht, ihn zu verletzen, ihn zu töten. Krieg bedeutet aber nicht zwangsläufig die Verwendung von Panzern, Bomben und Granaten. Krieg kann auch auf einer ganz anderen Ebene ausgetragen werden, mit Waffen, die weit weniger gefährlich erscheinen, aber trotzdem verletzen und auf ihre Weise auch töten können.

Es sind Worte, ausgesprochen oder geschrieben, die sich treffsicher wie ein Giftpfeil in das Herz des Gegenübers bohren, dort eine Verwüstung unbeschreiblichen Ausmaßes hinterlassen. Diese Verletzungen sind oft schlimmer, weil sie den Selbstwert zerstören, den starken Seelenbaum entwurzeln und seine Stabilität gefährden.

Heilung kann nur geschehen, wenn Einsicht und Verstehen einen Weg suchen, um in Liebe Verzeihung zu geben und zu finden. Dieser Prozess kann nicht still und leise vor sich gehen, er muss „laut“, das heißt nach außen getragen, durch Worte in Gang gebracht werden.

Im verzeihenden Verstehen-wollen kann Friede wieder wachsen, Liebe neu entstehen. Das ist ein Teil von Weihnachten.
„LAUT“ – aktiv suchend, verstehend, verzeihend – DER LIEBE BEGEGNEN, IN FRIEDEN ANKOMMEN.

„Ok“, dachte der kleine Marienkäfer, „den lauten Frieden habe ich ja jetzt entlarvt. Aber warum ist die Freude still?“

Eine Weile saß er einfach ruhig in seinem bequemen Sessel, schaute zum Fenster hinaus und dachte nach. Aber irgendwie wollte sich kein passender Lösungsansatz finden. Langsam wurde der kleine Marienkäfer ungeduldig. Er klopfte mit seinen Fingern im Takt auf die Armlehnen. Aber diese Klopfgeräusche machten ihn nur nervös. Also stand er auf und ging ein paar Schritte durch den Raum. „Zu blöd!“, dachte er sich, „warum muss ich eigentlich immer allem auf den Grund gehen? Warum kann ich nicht einfach einmal alles so belassen, wie es ist?“….

In diesem Moment klingelte das Telefon. Welch wunderbare Abwechslung! Schnurstracks eilte der kleine Marienkäfer in den Vorraum und nahm den Hörer ab. Es war sein Freund, der Vierklee.

„Fröhliche Weihnachten!“, rief dieser freudig ins Telefon. „Ich freue mich schon soooo auf die Einladung heute Abend bei dir! Ich wollte nur fragen, ob ich vielleicht noch etwas mitbringen soll? Eine Flasche Rotwein oder Champagner? Sag einfach, was du möchtest.“

„Danke, das ist lieb von dir!“, meinte der kleine Marienkäfer. „Ich habe schon einen erlesenen Tropfen Rotwein gekauft, der gut zu meiner Essensvariation passt. Aber ein Glas Champagner würde den Nachtisch schon hervorragend abrunden. Das wäre wirklich toll, wenn du eine Flasche davon mitbringen könntest!“

„Ja, natürlich, mache ich gerne! Steckst du schon mitten in den großen Vorbereitungen zu deinem Festmahl?“

„Nein“, sagte der kleine Marienkäfer ganz kleinlaut. „Ehrlich gesagt mache ich mir gerade Gedanken, was Weihnachten eigentlich bedeutet…“Und so erzählte er seinem Freund, was seine Gedankenkapazität gar so sehr belastete.

Der Vierklee hörte geduldig zu. Am Ende von Marienkäfers Erzählungen war es zunächst still am anderen Ende der Leitung. Nur ein kleines Seufzen verriet, dass diese Fragen auch den Vierklee ganz schön ins Schwitzen brachten. Nach einiger Zeit meinte er aber ganz vorsichtig: „Weißt du“, ich denke, „die Freude ist deshalb still, weil sie ein Teil unseres Herzens ist. Freude kann zuerst nur im Stillen wahrgenommen werden, weil sie die positive Resonanz unserer Gefühle ist, das Echo unseres Herzens auf Liebevolles, Wunderbares, Überraschendes. Das Herz ist der Mittelpunkt unseres Wesens, unser Motor. Nur wir selbst wissen, wie es darum bestellt ist, welche Sehnsüchte es antreiben, welche Liebe es schlagen und welche Träume es hoffen lässt. Nur wir selbst können dies alles fühlen, wenn wir ruhig werden, wenn wir uns die Zeit nehmen, unserem Herzen zuzuhören, wichtig nehmen, was es uns sagen will.“

„Die stille Freude ist der zweite Teil von Weihnachten.“
„STILL- geduldig, bereitwillig, hinhörend- HERZENS-FREUDE WAHRNEHMEN, LIEBE SPÜREN, LIEBE WERDEN.“

„Wow! Das ist es!“ Der kleine Marienkäfer war ganz entzückt und berührt von den Ausführungen seines Freundes. Da fiel ihm ein Spruch ein, den er erst vor wenigen Tage in der Wunderwiesenzeitung gelesen hatte: „Freunde sind wie Sterne am Himmel. Man kann sie nicht immer sehen, aber sie sind trotzdem immer da.“ Wie schon so oft hatte es der Vierklee auch diesmal geschafft, ihm ein paar leuchtende Orientierungssterne an den Himmel seiner Unsicherheit zu malen. Wie gut, dass er diesen Freund hatte! Er gehörte zu den kostbaren Schätzen, die ihm auf der Suche nach seinen Träumen begegnet waren.

Der kleine Marienkäfer und der Vierklee machten noch ein kleines Plauschchen, ehe sie sich verabschiedeten. Schließlich gab es noch jede Menge zu tun, zumindest für den kleinen Marienkäfer. Er würde sich nun ganz den Vorbereitungen für das Festmahl widmen, den Tisch schön schmücken, den Weihnachtsbaum dekorieren und eine kleine, besinnliche Tischrede vorbereiten.

Um 17.00 Uhr würde er sich mit seinen engsten Freunden- dem Vierklee, dem Schwein und dem Kaminkehrer- in der kleinen, malerischen Kapelle am Waldesrand einfinden, um gemeinsam die Weihnachtsandacht zu besuchen, ein wenig Raum für Besinnliches zu schaffen. Danach würden sie gemeinsam im Schnee nach Hause stapfen und den Klängen der Trompeten lauschen, die die Schmetterlinge traditionsgemäß am Ende der Andacht in die weite Wunderwelt hinaus schickten.

Sie würden genussvoll das Spezialmenü verzehren, Weihnachtlieder unter dem Christbaum singen, kleine, liebevoll ausgesuchte Geschenke austauschen und fröhlich lustig den Abend ausklingen lassen.

Der kleine Marienkäfer dachte an seine Kindheitstage, an Tannenduft, Kerzenschein, vorfreudige Erwartung, Glockenklang…und es wurde ihm, wie jedes Jahr, ganz warm ums Herz. Weihnachten hatte nichts vom Glanz vergangener Tage verloren,  immer noch lag etwas Besonderes in der Luft, etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ, etwas, das diesen Tag immer kostbar und einzigartig machte…

Der kleine Marienkäfer ging lächelnd in die Küche, legte seine Lieblings-Weihnachts-Musik auf und begann fröhlich beschwingt zu werkeln…

 

Ich wünsche allen ein fröhliches Weihnachtsfest –
viele, kleine, berührende Erinnerungen an vergangene Tage –
und ein Gefühl von Frieden und Freude im Herzen!

Herzlich, Barbara Beikircher

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